Geschichte des Wohnens in Heilbronn

Vom faulen Gebälk zum Kunstwettstreit

Ein alter Heilbronner erzählt mir sehr lebendig über die alte Fischergasse, die baufälligen Häuser waren „voller Ungeziefer“– die kleinen Straßen nahe am Fluss war der Wohnort der armen Leute. Straßennamen wie Gerbergasse und Metzgergasse erinnert noch daran. Von dort kamen auch meine eigenen Vorfahren, die mit Lederverarbeitung zu tun hatten, Schuhe und Pelze herstellten. Aus dem Kirchbrunnen flossen fast 1000 Liter in der Minute, es floss am Fleischhaus vorbei, dahinter an der Fischergasse stand lange der einzige Abort der Stadt mit fliessendem Wasser. Bei Hochwasser spülte es die Misthaufen durch die Gasse.

Fischergasse mit Aborthaus, StA Hn

Die Oberschicht wohnte weiter nördlich. Die Klostergasse war einst eine bessere Wohngegend mit stolzen Fachwerkbauten. Das alte jüdische Viertel zwischen Fruchthaus und Georgsbrunnen wirkt fast wie ein Puffer zwischen den sozialen Klassen.

Fachwerkbau in der Klostergasse, in der mittelalterlichen Stadt wohnte hier die Oberschicht, StA Hn

In der Klostergasse stand auch das Haus der Familie Cluss, ein alemannischer Fachwerkbau mit tiefem Weinkeller. Die Geschichte der Familie mit ihrer Entwicklung von Weinbauern zu Architekten und Städtebauern erzählt den Wandel der Wohnkultur.

Die Eisenbahn erreichte Heilbronn als eine der ersten Städte im Süddeutschland und trieb die Industrialisierung voran. Die ersten Fabriken bohrten das Grundwasser an, der Kirchbrunnen versiegte bereits Mitte des 19 Jahrhunderts. Das Bürgertum drängte aus den Grenzen der mittelalterlichen Stadt, baute Villen mit Gärten. Die Wohnverhältnisse der Arbeiter blieb beengt, die sanitären Anlagen schlecht. Bis in die 50er Jahre des 20 Jahrhunderts würde es dauern, bis  Plumpsklo und Jauchegruben durch Kanalisation und Kläranlagen abgelöst wurden. Immerhin: Heilbronn war die erste Stadt in Württemberg, die einen gemeinnützigen Wohnbau gründete, um für (einige) Arbeiter bessere Wohnverhältnisse zu schaffen. 

Zu den progressiven Kräften Heilbronns im 19. Jahrhundert gehörte auch Adolf Cluss, der in der Klostergasse geboren wurde. Architekt und Symbolfigur der 1848er, im engeren Zirkel um Karl Marx, wanderte er bereits 1848 in die USA aus und wurde ein führender Architekt in Washington. Seine Schwester Caroline, die in Heilbronn blieb, heiratete den Stadtbaumeister Louis de Millas. Schwester Henriette Marie verdanken wir eines der schönsten Gebäude der Gründerzeit, das heute noch erhalten ist, die Weinvilla in der Cäcilienstraße.

Die Architektur der Gründerzeit in Heilbronn wurde auch wesentlich von der jüdischen Gemeinde der Stadt geprägt.  Einige der bekanntesten Bauten im Zentrum sind mit der Familie Grünwald und Abraham  verbunden: Architektur, die ein Stadtbild prägt und Identität stiftet, war Teil der Bemühungen um Integration und Gleichberechtigung.  

rechts Kaiserstraße 27, Wohnhaus der Familie Abraham, Foto: Gebrüder Metz

Die Familie Abraham bewohnte drei Stockwerke in der Kaiserstraße 27. Zur Wohnkultur gehörten Salons und Hauskonzerte. Der spätere Kunsthändler Heinrich Grünwald war ein begeisterter Bauherr in Heilbronn und schwelgte in der Stilvielfalt der Gründerzeit von Neobarock bis Jugendstil. Unten die Kaiserstraße 40 am Kiliansplatz, erbaut von Heinrich und Adolf Grünwald. Die Familien Abraham und Grünwald waren auch leidenschaftliche Kunstsammler. Ihre Geschichte führte Zeitsprünge auf die Spur von Raubkunst bis ins Metropolitan Museum in New York. 

Kaiserstr. 40 am Kiliansplatz, StA Hn

Unten Zeichnungen zu Kaiserstraße 27, 31 und 26. Grünwald war selbst ein begabter Zeichner, gut möglich das der verspielte Entwurf seines Wiener Cafés von 1901 (Kaiserstraße 26) auf seiner eigenen Skizzen beruht.

aus den Bauakten Kaiserstr 27, 31, 26, StA Hn, Kolorierung jp

Die Heilbronner Synagoge als großer Repräsentationsbau der Gründerzeit entstand übrigens vor der Friedenskirche  – ein friedlicher Wetteifer, die Bauten zeigen stilistisch eine gegenseitige Beeinflussung. Förderung von Vielfalt und soziales Engagement waren auch typisch für Gründerpersönlichkeiten wie Abraham Gumbel, aus dessen Bank am Marktplatz die Volksbank hervorging. Er unterstützte Sozialdemokraten und Liberale der Stadt, setzte sich gegen Lebensende für Pazifismus und Aussöhnung ein.

Mit Nationalsozialismus und Krieg gingen die meisten Bauten des alten Heilbronn verloren, nach 1945 blieb eine Monokultur zurück, nicht nur in der Architektur. Von vier Tageszeitungen in Heilbronn blieb nach 1933 eine übrig, das Gesicht der neuen Stadt: nüchterner Beton der 50er Jahre, wie es gerade auch die Bebauung des Synagogenplatzes neben der Heilbronner Stimme zeigt.

Findet Heilbronn zurück zur Vielfalt? In jüngster Zeit wurde das Neckarufer wiederbelebt, die Bundesgartenschau war ein (Publikums-)Erfolg. Der Wandel kann gelingen, wenn die Kraft von den Bürgern kommt, die der Stadt ein individuelles Gesicht geben, nicht von Großinvestoren mit ihren Kettenpächtern. Die Kunst muss raus aus dem Museum und wieder mehr das Stadtbild prägen, mit einer Leidenschaft wie bei Grünwald und Abraham. Kleine Hausaufgabe für Heilbronn: Synagoge wieder aufbauen.

Joo Peter

Weiterführende Texte siehe time-echo.de.

Heinrich Grünwalds Name taucht in den Bauakten im Zentrum  immer wieder auf: Kaiserstraße 26, 31, 40, 46, 52, Schulgasse 7, Klarastr 2 , Allee 58, Sülmerstr 25. Das letzte, heute noch erhaltene Bauzeugnis von Heinrich Grünwald ist die Jugenstilfassade der Roßkampfstraße 4, die 1907 für die Kaiserstr. 46 gestaltet wurde und 1913 wegen Umbauten in die Roßkampfstraße kam.

Der Architekt der Heilbronner Synagoge, Adolf Wolff, hatte viele Synagogen in Europa gebaut, alle wurden zerstört. Wiederaufgebaut wurde nur sein einziger Kirchenbau, die Matthäuskirche in Stuttgarts Süden.

Briefmarke aus Israel mit dem Bild der Synagoge in Heilbronn